Leseprobe: Das Hexenhaus in Arkheim

Leseprobe aus "Das Hexenhaus in Arkheim"


Das Hexenhaus in Arkheim


Ich stehe in einem niedrigen Raum, zu meinen Füßen der staubige Bretterboden, über mir die wurmstichigen Balken der Decke. Die Wände sind von einem schmutzigen Grau, und vor den Fenstern, die sich klein und tief in das Mauerwerk fügen, liegt finstere Dunkelheit. 


Unsicher trete ich an den grob gehauenen Tisch, der sich in der Mitte des Raumes befindet und beuge mich über die im Lampenschein ausgelegten Schriften. Meine Finger gleiten über das brüchige Papier und spüren dessen grobe Struktur. Schon blättere ich durch die vergilbten Seiten. Die Texte sind in einem alten, schwer lesbaren Deutsch gehalten. Beschwörungen und Hexensprüche sind es, deren unheilvolle Inhalte sich mir aufs Gemüt schlagen und während meine Augen über die finsteren Worte gleiten, ergreift mich ein jähes Entsetzen. Ich weiche zurück, schiebe das verwunschene Buch von mir. Ich will den Bann brechen, will aus diesem unseligen Traum erwachen. Doch es will mir nicht gelingen. Ich kann mich den schrecklichen Traumgespinsten nicht entziehen.


„… die Vergangenheit, die niemals endet … die Zeit aufhört, das zu sein, was sie zu sein vorgibt … werden sich namenlose Mächte erheben … das alte Arkheim! Stadt der Finsternis! Stadt der Abgründe! Stadt des Schreckens und der Verdammnis!“


Erneut trete ich an den Tisch, blättere in den verwunschenen Seiten und blicke auf die Ansichten einer mittelalterlichen Stadt, die auf den blassen, schwarzweißen Photographien realer wirkt, als dies von solchen Aufnahmen zu erwarten wäre. Die Mauern und Gebäude zeigen sich in eigenartigen Proportionen, dass ich zunächst an eine Täuschung glaube. Es liegt wohl am Alter der Bilder, die zu einer Zeit entstanden, als die Technik noch am Anfang stand. Dennoch sind sie von einer bezwingenden Kraft. Es will mir scheinen, die Grenzen unserer Welt wollten sich darin verlieren. 


Mir schwindelt, und ich finde keinen Halt. Mein Herz verkrampft sich, und doch kann ich nicht anders: Ich nehme das alte Buch und reiße die Seiten heraus. Ich halte sie in Händen und trage sie seither bei mir. Unmöglich kann ich mich ihrem Einfluss entziehen. Oh Gott! Was hat es zu bedeuten? Tage sind vergangen, vielleicht Wochen, gar Monate. Die Zeit ist wie verschwommen. Wie in einem Traum laufe ich umher und weiß nicht, was mit mir geschieht.


Und fortwährend muss ich an diese alte Stadt denken. Sie will mir nicht aus dem Sinn gehen. Jede Nacht träume ich von ihr, sehe die alten Häuser vor mir, die geneigten Mauern und das grobe Pflaster der Straßen. Unbegreifliche Schatten winden sich im Dunkel der engen Gassen, und mein Blick verliert sich ohne jedes Ziel. Immer größer wird der Einfluss dieser schrecklichen Bilder, und jeden Morgen erwache ich unter tausend Qualen und bin verrückt vor Angst. Stets finde ich die Seiten über das alte Arkheim neben mir liegen. 


Ich war nie in dieser Stadt gewesen, habe nie den Namen Arkheim auch nur gehört. Ich bezweifle, dass es diesen Ort wirklich gibt! Und doch kann ich mich seiner Realität nicht entziehen. Mit jedem weiteren Tag wird er mir zur Gewissheit. Im Wachen wie im Träumen begleiten mich diese furchtbaren Seiten. Ich suche die Stadt auf Karten, beginne in den Archiven zu forschen, lese in alten Texten und Dokumenten, während die Tage haltlos an mir vorüberziehen. Ich werde schier wahnsinnig bei meiner Suche.


Und doch weiß ich nicht mehr als am Anfang. Ich kann das entsetzliche Geheimnis nur erahnen. Beharrlich betrachte ich diese unheilvollen Bilder. Ich kann den Blick nicht von ihnen nehmen, wundere mich über die Winkel und Perspektiven und lese in den wahnsinnigen Seiten aus diesem Buch. 


Wie durch ein Wunder erfahre ich, dass die Stadt einen anderen Namen trägt. Sie liegt tief im deutschen Osten und ist umgeben von slawischem Gebiet. Doch mir scheint das so unwahr, als sei auch dies nur einer meiner Träume, nichts als eine flüchtige Eingebung, die sich in einem Augenblick verliert.


Mehr kann ich nicht erfahren. Nichts über diese Stadt dringt nach außen, und mir wird bewusst, wie wenig über sie bekannt ist. Mir scheint, jede Erinnerung an sie solle ausgetilgt sein, damit niemand mehr von ihr wisse.


Ich bin wie gelähmt und finde keine Worte. Meine Verwirrung wird immer größer, und aus dem Dunkel vernehme ich eine Stimme, die mich drängt, diesen unwahren Ort zu besuchen! 


Ich will es nicht tun, doch ich kann nicht anders. Ich muss nach Arkheim fahren und mir diese finstere Stadt ansehen. Ich werde durch die engen Gassen schreiten und unter den Häusern stehen, die aussehen, als seien sie nicht von dieser Welt. Mit Schaudern werde ich über das grobe Pflaster gehen und mir diese unverrückbaren Mauern betrachten, die sich neigen, als wollten sie stürzen. Was passiert mit mir und meinem Leben? Mit jedem Tag, mit jeder Stunde habe ich das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein!


Die Zeit gleitet an mir vorüber. Die Stunden und Tage eilen in wirrer Abfolge dahin, und doch scheinen mir nur Augenblicke vergangen, als ich mit Koffer und Tasche in der Kälte stehe. Schwere Dunkelheit umgibt mich, und ich verspüre umso mehr die ernste Bedrückung, die auf mir lastet. Hier bin ich nun und warte auf den Bus, der mich nach Arkheim bringen wird. Es ist spät, und ich frage mich, ob er noch kommen wird. Vielleicht ist auch dies nur ein Traum. Ich hoffe so sehr, dass es nur ein Traum ist. Aber meine Hoffnung ist vergebens.


Schon sehe ich aus der Ferne die Lichter herannahen. Die ersten Nebel legen sich über das Grau der Straße, und das Quietschen der Bremsen reißt mich aus meiner Betäubung. Die Türen des Busses öffnen sich. Ich steige zu und habe das Gefühl, dass die Welt hinter mir zurückbleibt. Der Fahrer betrachtet mich mit langen, kalten Blicken. Ich löse einen Fahrschein, gehe an ihm vorüber und setze mich auf meinen Platz.


Es sind nicht viele Fahrgäste, die mit mir in das verrufene Arkheim fahren. Plump sitzen sie auf ihren Plätzen, und ihre bleichen Gesichter stechen aus der Dunkelheit hervor. Ich bemerke, wie sie zu mir herübersehen, spüre ihre starren Blicke. Mir ist nicht wohl dabei. Ein klammes Unbehagen kriecht in meine Glieder, bis ich es nicht mehr ertrage. Ich sehe weg, will nicht länger in diese ungestalten Gesichter blicken, will nicht länger diesen kalten Blicken begegnen. Ich ahne nun, weshalb diese Stadt so sehr gemieden wird. Auch nehme ich diesen Geruch wahr, den ich aus meinen Träumen kenne und der mich begleitet, als sei es mein eigener.


Auf endlosen Kurven und Kehren steuert der Bus seinem Ziel entgegen. Der Weg führt durch eine Landschaft von beispielloser Ödnis. Die Bäume ducken sich im Licht der Scheinwerfer. Die Äste und Zweige sehen aus, als seien sie Gespenster und über allem spannt sich ein schwarzer, trostloser Himmel.


Mich ermüdet die lange Fahrt. Das monotone Brummen des Motors betäubt mich, und ich verspüre eine plötzliche Müdigkeit. Ich drücke mich in meinen Sitz und wende mich von den anderen Fahrgästen ab. Mir ist recht merkwürdig zumute, und schon gleite ich in eine Welt voller wirrer und hysterischer Träume.


Es sind die immer gleichen Träume, die mich verfolgen. Ich träume von dieser gottlosen Stadt, von den dunklen Gassen und den sich neigenden Mauern. Wieder höre ich die Stimme, die mich ruft. War sie bisher nur leise und verhalten, so sind die Worte nun klar und deutlich, und auch wenn ich ihre Bedeutung nicht kenne, so spüre ich ihren unheilvollen Einfluss. Bei alldem zeigt sich mir ein Hexengesicht, das mich voll böser Absicht ansieht, die Augen so stechend wie Messer, die Nase grob geformt und faltig. Immer mehr befällt mich ein eisiges Grauen.


Mit einem Schrei fahre ich auf. Ich bin starr vor Schreck und spüre den kalten Schweiß auf meiner Haut. Erst allmählich schüttle ich die Benommenheit ab. Die Mitfahrer sehen mit ausdruckslosen Mienen zu mir herüber. Viel zu lange dauert es, bis sie den Blick von mir nehmen. Wie graut es mir vor ihrer Nähe und ihren stumpfen Augen, die so zwingend auf mich herabsehen! Wie schaudert es mir vor den furchtbaren Gesichtern!


Ich schaue aus dem Fenster und sehe auf die karge Landschaft hinaus, die im fahlen Schein des Mondes liegt. Schal und ölig glänzt das Wasser in den dunklen Gräben, die die Gegend durchziehen, und bald schon zeigen sich mir die Umrisse der entsetzlichen Stadt. Schaudernd gewahre ich die hochragenden Mauern, die gewölbten Dächer, die Brüstungen und Zinnen, die Türme und Wehranlagen mit ihren zahllosen blinden Fenstern. Es ist genau wie in meinen Träumen und auf den Bildern, die ich bei mir trage. An jede Einzelheit meine ich mich zu erinnern, als wäre ich bereits tausend Mal in dieser Stadt gewesen, als wüsste ich mehr über sie und ihre Bewohner, als ich es mir eingestehen will.


All meine dunklen Träume scheinen mit einem Mal wahr zu werden. Wir fahren durch eines der mächtigen Tore, und der Bus rumpelt über das bucklige Pflaster. Finster blicken die Häuserfronten auf mich hernieder. Klein und dunkel wirken die Fenster. Die Türen scheinen verschlossen. Die Straßen und Plätze liegen wie ausgestorben da.


Schließlich halten wir auf einem Platz in der Mitte der Stadt, der von den dunklen Fluchten der Häuser umstanden ist. Ich folge den Fahrgästen, die einer nach dem anderen den Bus verlassen und kann es noch immer nicht glauben, dass ich nun in dieser Stadt bin. Unzählige Male habe ich von diesem Ort geträumt, und es beunruhigt mich, wie sehr sich die Grenzen zwischen Traum und Realität verschieben. Alle Zeit scheint sich an diesem Ort zu verlieren, und mich betäubt ein eigenartiger Schwindel. 


Da bemerke ich, dass der Fahrer des Busses mit raschen Schritten davoneilt und in einem der Häuser verschwindet. Ich wundere mich über seine Art zu laufen, dieses ungelenke Schwanken, da sehe ich durch eines der Fenster, wie er sich jemandem zuneigt und heimliche Worte flüstert. 


Ich schaue auf und erkenne den Schriftzug, der über der Tür prangt. Zum Hexenhaus, steht da in altdeutscher Schrift.


Zum Hexenhaus!, tönt es in meinem Kopf. Das Hexenhaus in Arkheim! Dieses Haus, das so alt wie die Stadt selbst ist! Wenn ich es ansehe, kann ich es spüren, als wäre die Vergangenheit noch immer lebendig.


„… die Vergangenheit, die niemals endet … die Zeit aufhört, das zu sein, was sie zu sein vorgibt … werden sich namenlose Mächte erheben … das alte Arkheim! Stadt der Finsternis! Stadt der Abgründe! Stadt des Schreckens und der Verdammnis!“


Erschrocken blicke ich zu diesem Haus, blicke zu der Schrift, die über dem Eingang prangt und betrachte die winzigen, tiefen Fenster und das Dach, das sich auf so befremdliche Weise aufwirft. Das Gebäude verströmt einen jahrhundertealten Atem. Ich kann die Geheimnisse nur erahnen, die hinter diesen Mauern verborgen sind. 


Gleichzeitig wünschte ich mir, ich wäre niemals an diesen Ort gekommen! Was habe ich hier zu suchen? Hätte ich doch niemals dieses Buch gefunden und wüsste nichts von der Existenz dieser fürchterlichen Stadt!


Nach einer Weile bemerke ich, dass der Fahrer wieder in seinem Bus sitzt und eilig davonfährt. Es ist zu spät, um zuzusteigen und diesen Ort wieder zu verlassen! Einsam stehe ich auf dem weiten Platz und spüre erneut die nächtliche Kälte. Ich weiß, ich kann hier nicht bleiben. Ich brauche eine Unterkunft, muss mir ein Zimmer suchen. Was bleibt mir anderes? Ich nehme meine Tasche und den Koffer und gehe mit kalter Furcht im Herzen zu diesem verwunschenen Haus, dem Hexenhaus in Arkheim!


Voller Staunen betrete ich die niedrige Stube. Mein Blick fällt auf die grauen Balken und das bröckelnde Mauerwerk. Trockener Staub liegt in der Luft, und der trübe Schein der Lampe kann die Ecken und Winkel des Raumes kaum erhellen. Wie alt mag das Haus sein, frage ich mich und schaue mich um. Und ehe ich es recht begreife, steht die gebeugte Gestalt dieses hässlichen Weibleins vor mir. Aus dem Nichts ist sie aufgetaucht, steht unbewegt da und sieht mich ganz seltsam an, ja, dringt mit ihren Blicken förmlich in mich. Starr verharre ich und kann mich nicht bewegen, während sich ihre Lippen zitternd öffnen und mich der süßliche Klang ihrer Stimme umfängt.


Es ist wie in meinen finstersten Träumen. Mir schwindelt, und nur mit Mühe halte ich mich aufrecht. Ich stütze mich auf das Geländer der Treppe und folge ihr willenlos über die steilen Stiegen hinauf zu der Kammer, in der ich die Nacht verbringen werde. Stufe um Stufe steige ich empor und vernehme das Knarzen der Bohlen. Jeder dieser Augenblicke scheint mir von einer ungeheuerlichen Eindringlichkeit.


Schon finde ich mich in der spärlich eingerichteten Kammer. Die Wände sind karg und farblos und stehen in eigenartigen Winkeln zueinander. Die Decke senkt sich unter dem Gewicht des Daches. Dies verleiht dem Raum eigenartige Proportionen. Doch ist das Zimmer sauber und von einer angenehmen Größe.


Ich bin froh, als die Alte endlich fortgeht und mich allein lässt. Noch immer meine ich ihre Nähe zu spüren, und ihr heiseres Lachen klingt mir in den Ohren. Ich setze mich auf das Bett, blicke zu den dunklen Fenstern und denke: Was ist es doch für ein böses Weib! Zweifellos ist sie nichts anderes als eine Hexe. Eine Hexe! Eine Hexe!, schießt es mir durch den Kopf. Mit einem Mal übermannt mich eine lähmende Angst. Ich rede mir ein, dass es an meinen überreizten Nerven liegt. Ich brauche ein wenig Ruhe! Bald schon zwingt mich die Erschöpfung nieder, und ich falle in einen unruhigen Schlaf. 

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