Leseprobe Sohn des Friedhofswärters

Florian, der Sohn des Friedhofswärters


ENTEN-JOHN IST TOT


Schwere Wolken ziehen über den Himmel. Es regnet seit Tagen und ich habe das Gefühl, dass es nie mehr aufhören wird. Verloren stehe ich hinter den Bäumen gegenüber dem Friedhof und sehe zu, wie der Leichenwagen vorfährt. Die Bestatter achten darauf, dass niemand auf dem Weg ist. Dann erst steigen sie aus und gehen zum hinteren Ende des Wagens. Mit unbewegter Miene heben sie den Sarg von der Ladefläche und fahren ihn auf einem klapprigen Gestell zur Kapelle, wo der Verstorbene bis zur Beisetzung aufgebahrt wird.

Ich heiße Florian und bin der Sohn des Friedhofwärters. Schon oft habe ich den Bestattern bei ihrer Arbeit zugesehen. Diesmal ist es der alte Enten-John, den sie bringen. Das weiß ich aus dem Schaukasten mit den Beerdigungsterminen. Natürlich ist Enten-John nicht sein richtiger Name, sondern in Wirklichkeit heißt er Herbert Müller. Meine Freunde und ich hassten ihn, denn jedes Mal, wenn wir auf der Wiese hinter seinem Garten Fußball spielten, kam er aus seinem Haus, um uns zu vertreiben. Dann stand er mit hochrotem Kopf am Gartenzaun und schrie uns an, dass uns Hören und Sehen verging. Das machte mir richtig Angst.

Einmal hatte ich ihn abends in seinem Garten beobachtet. Der lag im Schatten hoher Bäume und war völlig verwildert und voller Unkraut. Dort hatte er eine kleine Geflügelzucht mit Hühnern und Enten, die ziemlich verwahrlost aussahen. Ich stand hinter der Hecke und sah ihm zu, wie er die Tiere mit altem Brot und Abfällen fütterte. Er war blass und wirkte krank, aber seine Augen waren wie die Hölle. Plötzlich sah er in meine Richtung und hatte er mich auch schon entdeckt. Sein Gesicht verfärbte sich vor Zorn. Wütend hob er die Faust und kam auf mich zu. Und wie er mich ansah! Ich war starr vor Schreck. Augenblicke später kam ich endlich zu mir, stürzte davon und lief so schnell ich nur konnte nach Hause.

Die ganze Nacht träumte ich von Enten-John und seinem Geflügel. Träumte davon, wie er es mit seinen großen, dürren Händen fütterte und wie sich die ausgemergelten Tiere um jeden Brocken stritten. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, meinte ich, er stehe vor dem Fenster und starre zu mir herein. Zitternd zog ich die Decke über den Kopf, doch es half nichts. Ich war mir sicher, dass er noch immer dort draußen war und dann hörte ich sein Lachen und hatte eine solche Angst, dass ich nicht mehr einschlafen konnte.

Dauernd musste ich nun an Enten-John denken. Ich sah ihn vor mir, wie er in seinem Garten die Hühner und Enten fütterte. Selbst im Sommer trug er ein dickes Baumwollhemd mit Holzfällermuster und viel zu langen Ärmeln und auf dem Kopf hatte er einen großen Schlapphut. Doch sah man ihn tagsüber nur selten. Er mied die Helligkeit des Tages und wenn er kam, um uns zu vertreiben, verschwand er sofort wieder in den Räumen seines großen, düsteren Hauses.

Es schien mir merkwürdig, dass er die Sonne so wenig leiden mochte. Lange hatte ich mir darüber den Kopf zerbrochen und es konnte dafür nur eine Erklärung geben. Und je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir die Sache: Enten-John ist ein Untoter! Er ist ein Vampir, ein Wesen der Nacht! Es kann nicht anders sein. Und wenn die Sonne versinkt und es dunkel wird, erhebt er sich von seinem Lager und schleicht durch die Straßen und Gassen dieser Stadt!


Share by: